Über acht Wochen ist es nun schon her, seit unser Winterkind zur Welt kam, und die Erinnerung an diesen Tag fängt schon langsam an zu verblassen…

Doch wo soll ich damit beginnen, diese Geschichte zu erzählen? Ganz sicher nicht mit dem Moment in der Früh, als ich merkte, dass unser Sohn sich nun tatsächlich auf den Weg machte, denn es gehört ja auch dazu, was überhaupt erst dazu geführt hatte und wie wir diese letzten Tage meiner Schwangerschaft erlebten.

Ich hatte nicht erwartet, dass unser Sohn pünktlich zum Termin oder gar noch früher zur Welt kommen würde. Ich war mir recht sicher, dass es vielleicht noch zwei, drei oder vier Tage länger gehen würde, so wie bei Milena damals. Doch die Tage vergingen, einer nach dem anderen, und nichts sah nach einer baldigen Geburt aus. Einerseits ging es mir sehr gut damit, denn ich war körperlich lange nicht so beeinträchtigt wie beim letzten Mal und ich genoss meine freien Vormittage. Andererseits sehnt man sich nach seinem Kind und trägt diese ganz leise Sorge die ganze Zeit mit sich herum: Warum nur kommt es nicht?

Jeden zweiten Tag traf ich mich mit meiner Hebamme Renate im Geburtshaus und wir schrieben ein CTG, um zu überprüfen, ob es unserem Sohn noch immer gut ging. Alles sah gut aus, jedes Mal, doch Wehen waren weder zu sehen noch für mich zu spüren. Und so beschlossen wir, als schon eine ganze Woche vergangen war und die leise Angst vor dem Krankenhaus sich einschlich, unserem Sohn ein wenig zu helfen. Bis dahin hatte ich nichts getan, um uns zwei körperlich auf die Geburt vorzubereiten, aber nun trank ich Himbeerblättertee, schluckte Globuli und Nachtkerzenöl, nahm heiße Bäder, verwendete Nelkenöltampons und ließ mich von Heike und Ulrike täglich akupunktieren. Doch nichts half, nicht einmal annähernd, und ich grübelte und fragte mich, ob es vielleicht meine eigene Angst war, die uns im Wege stand.

Vor Milenas Geburt war ich unbelastet gewesen, unwissend und daher vollkommen frei von Angst und offen für alles, was kommen mochte. Dieses Mal war es anders, denn ich wusste auch um die dunklen Seiten, und obwohl die Geburt damals genau so verlief, wie ich es mir gewünscht und vorgestellt hatte, ging auch vieles, vieles kaputt und hinterließ mir nun dieses neue Gefühl der Sorge und Furcht darum, was dieses Mal mit mir geschehen würde.

Vielleicht also lag es daran, dass unser Sohn nicht kommen wollte? Ich wusste, ich musste loslassen, frei werden, aber das Gedankenkarussell drehte sich weiter und weiter und so verging ein Tag nach dem anderen und nichts geschah.

Inzwischen waren schon zehn Tage verstrichen seit dem errechneten Termin und zur Sicherheit empfahl Renate einen Besuch beim Frauenarzt, um per Ultraschall zu überprüfen, ob unser Kind noch gut versorgt würde. Dort empfing man mich, obwohl ich fast fünf Monate nicht mehr dort gewesen war, sehr herzlich und freundlich und mit großen Augen. “Was, Sie sind immernoch schwanger?”

Die Untersuchung ging schnell und das Gespräch mit der Ärztin, einer sehr lieben Frau, beruhigte mich in jeder Hinsicht. Es sei noch genug Fruchtwasser da, die Plazenta sei nicht einmal ansatzweise verkalkt und das ganze Baby noch bedeckt mit Käseschmiere. Wenn das so bleibt und es mir auch weiterhin gut ginge, bestünde kein Grund für eine Einleitung, selbst wenn zwei Wochen überschritten werden.

Oh, wie gut das tat! Die ganze Sorge, die sich auf den nächsten Mittwoch, Tag 14, gerichtet hatte, verflog und ich fühlte mich frei und leicht und glücklich.

Am Abend dann hatte ich eine Verabredung mit Ulrike und bekam eine wundervolle Watsu-Behandlung. Unbeschreiblich, was das mit einem macht! Ich hielt die Augen geschlossen und wurde durchs warme Wasser gezogen, gedehnt, bewegt, gehalten. Das Gefühl für Zeit und Ort ging verloren und man kann gar nicht anders – man muss loslassen, alles gehen und geschehen lassen.

Ich fühlte mich wie neugeboren, als würde irgendetwas in meinem Inneren strahlen.

So ging ich zu Bett und schlief viel, tief und erholsam bis zum nächsten Morgen.

Es war Samstag, der 18.12.2010, es war tiefer Winter und draußen lag neuer Schnee, der über Nacht gefallen war.

René stand auf und machte Milena fertig. Alleine, anders als sonst, denn ich spürte eine Art Übelkeit, ein merkwürdiges Gefühl, und so blieb ich noch einige Minuten liegen. Auch unten dann, geduscht und angezogen, merkte ich, dass irgendetwas anders war als sonst und dass ich mich nicht in den normalen Alltag stürzen konnte, und so schickte ich meine beiden Lieben nach draußen, um Schnee zu schippen, zog mich auf die Couch zurück und lauschte in mich hinein.

Ja, irgendetwas geschah, und auch wenn es in diesem Moment noch keine starken Wehen waren, so war ich mir sicher, dass unser Sohn sich nun endlich auf den Weg machte.

Ich versuchte zu entspannen, machte es mir im Schneidersitz gemütlich und war sehr froh, glücklich und erleichtert, dass es nun soweit war.

Die Wehen kamen langsam aber stetig, jede einzelne war stärker als die vorangegangene, doch insgesamt war das alles noch sehr gut auszuhalten. Ich erinnerte mich an das letzte Mal, an die sich langsam steigernde Intensität der Schmerzen und mir wurde klar, wie wunderbar die Natur das eingerichtet hat. Man hat genug Möglichkeit, sich an alles zu gewöhnen, man wird nicht plötzlich überrollt sondern langsam herangeführt und man bekommt Gelegenheit, sich auf jede Veränderung erneut einzustellen.

Inzwischen war eine halbe Stunde vergangen und meine zwei Lieben kamen vom Schnee schippen wieder, doch es blieb keine Zeit, um auszuruhen. Flugs packten wir Milenas Sachen zusammen und dann brachte René sie zu ihrer Tagesmutter. Dort fühlte sie sich wohl und wir brauchten uns keine Sorgen zu machen und konnten uns ganz auf Geburt und Baby konzentrieren.

Doch was für ein Moment, als ich meine kleine Wachtel das letzte Mal in den Armen hielt. “Tschüß, mein Herz, ich liebe Dich sehr”, und da flossen auch schon die Tränen, während sie ganz schnell und aufgeregt Richtung Auto trippelte, ihr Kuscheltier fest im Arm. Nie werde ich diesen Augenblick vergessen.

Aber für weitere Tränen war schon keine Zeit mehr. Ich war nun allein, und die Wehen wurden rasch stärker. Still bleiben konnte ich nicht mehr und so fing ich an zu tönen, wie schon beim letzten Mal. Und erneut war diese Art des Atmens eine so große Hilfe, der rote Faden, der sich durch die Geburt zieht, die Rettungsleine, die Sicherheit und Orientierung schenkt.

Und dann erinnerte ich mich an Lovis, die während der Geburt sang, damit es leichter ginge, und mir kam dieses bewegende Video in den Sinn, welches ich nur wenige Tage zuvor gesehen hatte. Wir hatten im Geburtsvorbereitungskurs einen kurzen Chant gelernt und ich hatte mir vorgenommen, das unter der Geburt auszuprobieren. Also sang ich.

Und es tat gut. Es ist leichter, damit die Zeit der Wehe zu überbrücken, weil ein Lied einen festen Ablauf hat. Das Tönen richtet sich nach der Länge der Wehe, aber eine Liedzeile kann man nicht abkürzen – man muss sie singen, wie sie ist und bekommt dadurch noch mehr Halt, einen noch festeren Griff an die Rettungsleine.

“Komm mein Kind, die Welt ist schön…”, immer und immer wieder und ich verstand es als Hilfe für mich und auch als Ermutigung für unseren Sohn, als Zeichen, dass er keine Angst haben müsse.

Doch irgendwann konnte ich nicht mehr singen. Die Wehen waren schon zu stark und es kostete mich mehr Kraft, als es mir schenkte, und so tönte ich lieber wieder.

Ich hatte Renate schon eine Kurznachricht geschickt, alle vier Minuten starke Wehen, und sie gebeten, zu uns zu kommen, doch klug wie sie ist, sagte sie, dass lieber wir schon ins Geburtshaus kommen sollten. Ich musste also nur auf René warten.

Endlich, endlich kam er irgendwann – eine gefühlte Ewigkeit war es für mich gewesen, dabei war er nur etwa eine Stunde fort gewesen. (Ganz der Pragmatiker musste er noch zur Apotheke, und Geld holen, und natürlich hatte er es nicht wirklich eilig dabei. Aber er konnte ja auch nicht wissen, dass alles so rasend schnell gehen würde.)

Aber er sah mir wohl an, dass es so langsam wirklich, wirklich an der Zeit war, aufzubrechen, und so fuhr er das Auto direkt vor die Haustüre und packte rasch alle Sachen zusammen. Ich versuchte in der Zwischenzeit ebenfalls, ins Auto zu kommen, was gar nicht so leicht war. Bislang hatte ich ja im Schneidersitz gesessen, doch durch das Aufstehen bekam ich einen unheimlichen Druck nach unten und Wehen ohne Unterlass, ohne Pause, und so brauchte ich ein paar Minuten für die fünf Meter.

Doch es gelang und wir fuhren los. Der Schneefall war zum Glück nicht so arg gewesen – die Strassen waren größtenteils schon wieder frei und so dauerte die Fahrt nur zwei Wehen. Und ich erlebte wieder, dass das wohl eins der schrecklichsten Gefühl überhaupt ist, Wehen im Auto. Jede leichte Erhebung, jedes Wackeln spürt man überdeutlich und was vorher ein tiefes, volles Tönen war wird im Nu zum spitzen, hellen Schrei.

Endlich kamen wir an. Ich kletterte irgendwie aus dem Wagen heraus und die fünf steinernen Treppen zum Geburtshaus hinauf. Wir klopften, die Tür ging auf, die nächste Wehe kam. Doch ich musste nichts erklären, Renate sah mich an und wusste sofort Bescheid. “Die kann grad nicht, die arbeitet.”

Sie und Doro, eine weitere Hebamme, brachten uns ins Geburtszimmer und ich machte es mir auf dem Bett bequem. Im Schneidersitz ging das wieder richtig gut und wir erzählten ein wenig. Doro fragte, ob sie mir beim Tönen helfen sollte und ich war sofort einverstanden – es ist schön und es hilft, wenn jemand mitmacht.

Zwei, drei Wehen kamen und gingen so und mir ging es eigentlich gut. Sie waren schon sehr schmerzhaft und ich war voll und ganz und sehr laut mit meiner Aufgabe beschäftigt, aber mein Umfeld passte, es war eine wunderbare Atmosphäre und ich fühlte mich sicher und gut aufgehoben.

Bei der nächsten Wehe ging die Fruchtblase auf und in Erinnerung an Milenas Geburt, bei der es genau so gewesen war, stellte ich mich darauf ein, dass sich die Intensität nun noch einmal steigern würde.

Doch man kann die Abläufe einer Geburt nicht so genau vorhersehen, schon gar nicht, wenn man selbst die Gebärende ist, und so kam doch der Zeitpunkt, an dem mich alles überrollte. Die nächste Wehe war stärker, deutlich stärker als die vorangegangene und ich spürte einen gewaltigen Druck nach unten. Gleichzeitig konnte ich es kaum glauben und ich kam mit dem Atmen nicht mehr hinterher. Meine Stimme schwoll an, überschlug sich vermutlich und zwischen zwei hastig geholten Atemzügen keuchte ich: “Renate, sind das Presswehen?!” Was für eine blöde Frage, so im Nachhinein betrachtet, aber ich konnte es in dem Moment wirklich einfach nicht glauben.

Und in demselben Augenblick kam auch die Angst. Damals musste ich das zwei Stunden lang aushalten. Zwei Stunden lang diesen Druck, diesen Schmerz, der einen auseinander reisst, diese Urgewalt. In meinem Kopf hatte ich das natürlich gewusst, doch dies nun noch einmal erneut zu erleben, und das in dem Wissen, dass es noch Stunden so gehen könnte… ich geriet in Panik.

Zusätzlich wurde es auch um mich herum etwas hektischer – niemand hatte mit einem so raschen Voranschreiten gerechnet. Renate und Doro streiften mir hastig meine Kleidung vom Körper und wiesen René an, sich hinter mich zu setzen und mir von dort Halt zu geben. Ich sollte mich zurücklehnen, mich ganz gegen ihn stemmen können. Doch die nächste Wehe kam und ich merkte, dass ich das so nicht konnte. Ich hatte das Gefühl, mich auch mit den Händen stützen zu müssen und war einfach ängstlich und verkrampft.

Irgendwie überstand ich die Wehe, und als sie endlich vorüber war, keuchte ich nur: “Das geht so nicht! Ich will ins Wasser!”

Renate zog die Augenbrauen hoch, sog die Luft zwischen den Zähnen ein und meinte: “Okay – dann aber SCHNELL!”

Schnell, oh Gott, ja, ich versuchte es. Trotzdem dauerte es lange, mich vom Bett zu wuchten, über den Flur zu humpeln, von beiden Seiten gestützt und dann rasch, rasch ins Bad. Das Wasser war zum Glück schon eingelassen und irgendwie kletterte ich über den Wannenrand und liess mich ins warme Nass gleiten.

Geschafft!

Ich hatte zwanzig wunderbare Sekunden Pause. Zeit, das Gefühl des Wassers auf der Haut zu genießen, Zeit, noch einmal tief Luft zu holen und Kraft zu schöpfen.

Und dann kam die nächste Wehe. Hob mich hoch, wie ein Riese es mit einer Ameise tun würde, schleuderte mich einmal quer durch den Raum, raubte mir den Atem. Wahnsinn. Hilfe! Urgewalt!

Und ich spürte, wie in mir etwas geschah. Etwas setzte sich in Bewegung, trieb unaufhaltsam vorwärts, bahnte sich seinen Weg. Ich bäumte mich auf, krallte mich am Wannenrand fest, schrie. Es gab nichts, was ich dem hätte entgegensetzen können, und so versuchte ich, loszulassen, zuzulassen. Etwas glitt durch mich hindurch und ohne hinzugucken wusste ich, dass der Kopf geboren war. Doch die Wehe war noch nicht vorüber und ich machte weiter mit. Versuchte, mich zu öffnen und gleichzeitig kraftvoll mitzuarbeiten. Und es klappte – mit einem gewaltigen Schrei spürte ich, wie unser Sohn ins Wasser glitt.

Ich öffnete die Augen, blickte an mir herab und sah einen winzigen Arm, ein winziges Bein dort unter mir im trüben Wasser treiben. Instinktiv griff ich danach, legte meine Hände schützend um diesen kleinen Körper und hob das kleine Wesen ganz nah zu mir. Ich legte es mir auf die Brust, lehnte mich zurück und rief: “Mein Kind ist da!”

Mein Kind, unser Sohn, auf den wir so, so lange gewartet hatten!

Und ich weinte, vor Glück, vor Freude und auch vor Fassungslosigkeit.

René kam herein – er war, weil wir so schnell ins Badezimmer umgezogen waren, noch einmal kurz zurückgegangen, um etwas zu holen und hatte so tatsächlich die Geburt verpasst! Und auch Renate und Doro waren völlig überrumpelt. Sie waren zwar im selben Raum, aber gerade mit etwas anderem beschäftigt gewesen. Aber am überwältigtsten war wohl ich selbst. Dieses kleine, schnorchelnde Wesen halten zu dürfen, dieses Leichtgewicht auf meiner Brust zu spüren und gleichzeitig zu wissen: Es war geschafft! Ich hatte es geschafft! Aller Schmerz ist nun vorüber, mein Kind ist da!

Ich hielt unseren Sohn im Arm, wiegte ihn, strich über sein dichtes, nasses Haar. Ließ mich von René küssen und ganz von unserem Glück mitreißen. Ich genoss diesen einzigartigen Moment, sog ihn mit allen Fasern in mich auf.

Da war er, unser Sohn. So stark, so wunderhübsch, so einmalig.

Arjen kam am 18.12.2010 um 12:34 Uhr zur Welt – gerade einmal dreieinhalb Stunden nach dem Moment, an dem ich das erste Mal dachte, dass es nun vielleicht losgeht und eine halbe Stunde nach unserer Ankunft im Geburtshaus. Er wog 4.120 Gramm und war 54 Zentimeter lang.

Und dieses Erlebnis war eines der schönsten in meinem Leben. Dieses Kind auf seinem ersten Weg zu begleiten und es auf genau diese Art und Weise tun zu dürfen. Ich war und bin unglaublich dankbar dafür, dass ich auch diese Geburt wieder so frei, so selbstbestimmt, habe erleben dürfen. Ich hatte es mir ganz genau so gewünscht.

Danke.